Jens Spahn sprach immer wieder von der “Pandemie der Ungeimpften” und berief sich dabei auf das RKI. Die geleakten Protokolle beweisen: Das RKI bewertete die Aussage als “nicht korrekt”.
Am 3. November 2021, Deutschland war fest im Griff der Corona-Maßnahmen, wandte sich der damalige Bundesgesundheitsminister Jens Spahn mit einem dramatischen Appell an die Öffentlichkeit. „Wir erleben aktuell eine Pandemie der Ungeimpften. RKI-Präsident Prof. Lothar Wieler und Prof. Leif Erik Sander von der Charité haben das mit Zahlen belegt“, schrieb Spahn auf seinem Instagram-Account. Und auf der Seite des Bundesgesundheitsministeriums ließ sich Jens Spahn zitieren: „Wir erleben gerade vor allem eine Pandemie der Ungeimpften – und die ist massiv. Die Infektionszahlen steigen.“ Die Aussagen von Spahn entsprachen nicht der Wahrheit. Das beweist ein Blick in die RKI-Protokolle.
Diese wurden am Dienstag von einem Team um die Journalistin Aya Velázquez veröffentlicht. Auch die Redaktion der SV Gruppe (Schwäbische und Nordkurier) hatte vorab Einblick in die Protokolle. Im Schriftstück vom 05. November 2021 heißt es auf Seite 8: „In den Medien wird von einer Pandemie der Ungeimpften gesprochen. Aus fachlicher Sicht nicht korrekt. Gesamtbevölkerung trägt bei. Soll das in Kommunikation aufgegriffen werden?“ Und weiter: „Dient als Appell an alle, die nicht geimpft sind, sich impfen zu lassen. Sagt Minister bei jeder Pressekonferenz, vermutlich bewusst, kann eher nicht korrigiert werden.“ Tatsächlich hatte Spahn bereits im September gesagt, man sehe eine „Pandemie der Ungeimpften“.
Spahn: Zahlen von RKI und Charité belegen Pandemie der Ungeimpften
Das Narrativ, das laut Robert Koch Institut „aus fachlicher Sicht nicht korrekt“ war, wurde von einer breiten Mehrheit übernommen – in der Bevölkerung, in den Medien, in der Politik. So sagte CSU-Chef Markus Söder am 3. November 2021: „Es ist eine Pandemie der Ungeimpften.“ Auch Bodo Ramelow, Linken-Politiker und zugleich Ministerpräsident des Freistaates Thüringen, sagte am 5. November 2021: „Wir haben eine Pandemie der Ungeimpften.”
Einer der wenigen Wissenschaftler, die dieser Aussage öffentlich widersprachen, war Christian Drosten. Er sagte in einem Interview mit der Zeit am 10. November 2021: „Es gibt im Moment ein Narrativ, das ich für vollkommen falsch halte: die Pandemie der Ungeimpften. Wir haben keine Pandemie der Ungeimpften, wir haben eine Pandemie.“
RKI: „Aus fachlicher Sicht nicht korrekt“
Der entsprechende Ausschnitt aus dem RKI-Protokoll vom 5. November 2021. (Foto: Privat)
In dem Interview wird nachgefragt: „Aber warum haben wir keine Pandemie der Ungeimpften? Auf den Intensivstationen – auch bei Ihnen in der Charité – liegen doch gerade die.“ Drostens Antwort: „Die Delta-Variante hat leider die Eigenschaft, sich trotz der Impfung zu verbreiten. Nach zwei, drei Monaten beginnt der Verbreitungsschutz der Impfung zu sinken. Und wir haben ganz viele Menschen gerade in den relevanten Altersgruppen, die schon im Mai oder im Juni geimpft worden sind. Die verlieren jetzt allmählich ihren Verbreitungsschutz, und sie werden immer mehr. Wir haben eine Pandemie, zu der alle beitragen – auch die Geimpften, wenn auch etwas weniger.“
Süddeutsche Zeitung: „Die Ungeimpften sind es, die die Pandemie vorantreiben“
Rund eine Woche später, am 18. November 2021, sagte Drosten dann plötzlich, dass Covid-19 in erster Linie eine „Krankheit der Ungeimpften“ sei. Und forderte harte Maßnahmen. So seien für einen effizienten Schutz leider zusätzliche Kontaktbeschränkungen für Ungeimpfte nötig, „die auch ihr häusliches und privates Umfeld betreffen“. Drosten sagte weiter: „Parallel zu den sofort und vorübergehend einzurichtenden Kontaktbeschränkungen für Ungeimpfte müssen die Auffrischungsimpfungen Fahrt aufnehmen“, erklärte Drosten. Dadurch werde der Übertragungsschutz erneuert und der „ohnehin gute Schutz vor einer schweren Erkrankung“ bei geimpften Erwachsenen weiter erhöht.
Die drei Schlagworte “Pandemie der Ungeimpften” waren Ende 2021 dann so weit verbreitet, dass sie in der öffentlichen Wahrnehmung und dem Großteil der Medien nicht mehr in Frage gestellt wurden. So titelte etwa die Süddeutsche Zeitung am 30. November 2021: “Pandemie der Ungeimpften” und schrieb dazu: „Wenn nach und nach immer mehr Autofahrer mit Winterreifen unterwegs sind, wird es auch zu immer mehr Unfällen im Winter mit dieser Art der Bereifung kommen. (…) Impfungen schützen – ebenso wie Winterreifen – ziemlich gut, aber eben nicht zu 100 Prozent.“ Das Fazit der Süddeutschen: „Die Ungeimpften sind es, die die Pandemie vorantreiben.“
RKI: „Man sollte sehr vorsichtig mit der Aussage sein“
Beim RKI bewertete man den Nutzen der Impfung intern etwas anders. So heißt es im Protokoll vom 5. November 2021 weiter: „Man sollte dementsprechend sehr vorsichtig mit der Aussage sein, dass Impfungen vor jeglicher (auch asymptomatischer) Infektion schützen. Mit zunehmendem zeitlichem Abstand zur Impfung trifft dies immer weniger zu.“
Das gelte umso mehr, weil „eine fortlaufende Adaptation des Virus an den Immunselektionsdruck in der Population anzunehmen ist, welche zukünftig ebenfalls die Schutzwirkung der Impfung gegen Infektion herabsetzen könnte.“